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Grußwort aus dem Gemeindebrief

Müller

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

„Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist…?“

 

Ich glaube, alle von uns haben dieses Spiel schon gespielt auf einer langen Auto- fahrt oder wenn es mal droht, langweilig zu werden. Und ja, das eine fällt sofort ins Auge, das andere bleibt ganz unscheinbar.

 

Ich sehe was, was du nicht siehst… Und was wir nicht alles sehen in einer reizüberfluteten Welt – oft sehen wir mehr als wir wollen, wir sehen weniger als wir könnten und immer wieder sehen wir weg, wo es eigentlich gilt hinzuschauen.

 

Wir leben inzwischen in einer Welt, die davon lebt gesehen zu werden. Auf der einen Seite haben wir die ständige Präsenz in sozialen Netzwerken, eine Fülle von Selfies, Roundsnaps, Blogs und Vlogs, von geteilten Videos, die viral gehen und hübschen Instagram-Stories. Da wird man gesehen.

 

Und auf der anderen Seite neigt sich ein Jahr dem Ende zu, in dem wir uns doch immer wieder gefragt haben, ob wir gesehen werden in unserer Unsicherheit, wohin es geht mit unserer Gesellschaft und unserer Welt, ob wir gesehen werden, wenn wir vorsichtig beim Supermarktregal dreimal  die Preise und Füllmengen miteinander vergleichen, um wenigstens ein bisschen sparen zu können, ob wir gesehen werden, wenn wir abends die Nachrichten wegdrücken, weil uns die Bilder so beschweren und das Leid so vieler Menschen uns so nahe kommt.

Die Jahreslosung, die uns im kommenden Jahr begleitet, heißt:

 

Du bist ein Gott, der mich sieht.

 

Dieser Satz stammt vom Anfang der Bibel, von ihrem ersten Buch: dort wird erzählt von einer Frau, Hagar heißt sie, die gar nicht angesehen war. Sie war Magd von Sara, der Frau Abrahams und so wurde sie auch behandelt.

Sie bekommt mit Abraham ein Kind, Ismael, da Sara ja eigentlich zu alt für Kinder ist. Hagar, eine junge Frau, die nicht über ihren Körper, nicht über ihre Zukunft entscheiden darf. Und nach allen Demütigungen und Schikanen in dieser un- seligen Dreiecksbeziehung, als dann doch auch noch Saras und Abrahams Sohn Isaak geboren wird, bleibt ihr und ihrem Sohn nur noch die Flucht in die Wüste.

 

Hagar kennt sich in der Wüste nicht aus, sie verlaufen sich, das Wasser geht zur Neige. Sie irren umher in der Wüste und sind dem Tod nahe.

 

Und da schaut Gott hin und greift ein. Ein Engel taucht auf in der Wüste: „Fürchte dich nicht! Hab keine Angst!“ – Immer ist das das Erste, was Gott zu einem Menschen sagt, wenn er ihn ins Leben zurückholt.

 

Diese Worte galten schon Abraham und Mose, später auch manchen Propheten. An Weihnachten wird es wieder laut: Maria und die Hirtinnen und Hirten werden in der Weihnachtsgeschichte mit einem „Fürchtet euch nicht“ aus ihren prekären Lebensver- hältnissen herausgerufen.

Gott greift in unsere Lebensgeschichten ein. Anders als wir es oft erwarten und wünschen. Gott sieht den Menschen hinter den Fassaden seiner Selbstdarstellung, unter der Verschleierung seiner Scham und Unsicherheit. „Du bist ein Gott, der mich ansieht“, sagt Hagar schließlich, weil sie spürt wie Gott ihr zusagt:

 

Ich sehe Dich in deiner Not! Ich sehe Dich in deiner Einsamkeit! Ich sehe Dich in deiner Trauer. Ich sehe Dich mit deinem Lebensmut und deiner Fröhlichkeit!

 

Ja, Gott sieht uns an so, wie wir sind, und damit gibt er uns Ansehen und Würde, die unabhängig sind von dem, was wir oder andere aus uns machen. Wir erleben weiterhin, wie Menschen aufeinander herabblicken, in Videos bloßgestellt werden, sich Terror und Gewalt ausgesetzt sehen.

Wir wissen, dass es nichts bringt, vor realen Bedrohungen und Gefährdungen die Augen zu verschließen und wir spüren gerade, wie das den Blick der Menschen starr macht, wo aus Angst, Unsicherheit und Selbstschutz nur noch das Eigene in den Blick genommen wird.

 

Du bist ein Gott, der mich sieht! Kann dann unser Blick nicht wieder weiter werden?

 

Auch bei Hagar scheint es zunächst so, als änderte sich nichts. Hagar muss zurück. Sie muss sich wieder Saras Blicken aussetzen.

 

Aber es hat sich etwas verändert, weil sie erfahren hat, dass Gott sie sieht. Ihre eigene Sichtweise verändert sich dadurch: Hagar bekommt einen neuen Blick auf ihr eigenes

Leben und dadurch verändert sich Hagar selbst: Sie gewinnt neues Selbstbewusstsein, kein Selbstbewusstsein auf Kosten anderer, sondern ein Selbstbewusstsein, dass sich von Gott her speist. Sie lebt aus der Zusage Gottes: Dein Leben ist nicht unbedeutend. Du bist nicht nur Mittel zum Glück der anderen.

 

Wir wissen, wir werden gesehen, wir sind angesehen. Dafür braucht es im wahrsten Sinne des Wortes Augenblicke der Begegnung.

 

Ich mag es ja nicht, mir Vorsätze für das neue Jahr zu machen, aber vielleicht behalte ich die Idee, mir Augenblicke der Begegnungen zu nehmen – mit Gott, mit den Menschen, die mir auf den ersten Blick auffallen und auch mit denen, wo ich über den Tellerrand schauen muss.

 

Ich wünsche Ihnen ganz viele solcher Augenblicke und dann und wann das „fürchte dich nicht“ eines Engels.

 

Eine gesegnete Adventszeit, frohe Weihnachten und ein gutes, hoffnungsvolles und friedliches neues Jahr wünsche ich Ihnen!

 

Ihre Pfarrerin Bärbel Gnamm


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